Warum die ersten Lebensjahre so entscheidend für später sind
In dieser ersten Zeit tragen Kinder ihr gesamtes Rüstzeug für das weitere Leben zusammen. Wie auf einer Baustelle, hängt die Stabilität ganz entscheidend vom Fundament ab. Damit Kinder zu selbstständigen Persönlichkeiten heranreifen, müssen sie bestimmte Fähigkeiten entwickeln.
Dazu zählen in erster Linie Vertrauen und Hilfsbereitschaft, Gestaltungsfreude und Begeisterungsfähigkeit. Eltern können ihre Kinder beim Schaffen dieser elementaren Grundlagen unterstützen. Jedes Kind kommt mit einer unglaublichen Lust am eigenen Entdecken und Gestalten zur Welt. Nie wieder ist es so neugierig darauf, das Leben kennen zu lernen wie in seiner frühen Kindheit. Diese unglaubliche Offenheit der Kinder ist der eigentliche Schatz der frühen Kindheit, den wir wieder bewusster wahrnehmen und hüten müssen.
Wie kann dies in Zukunft gelingen?
Bisher war es üblich, Kindern möglichst früh Sachwissen beizubringen. Doch die moderne Hirnforschung weiß es nun besser: Bildungsprozesse lassen sich nicht von außen in ein kindliches Hirn hinein gestalten, zentrale persönliche Fähigkeiten wie Motivation, Selbstkontrolle und Empathie lassen sich nicht unterrichten.
Stattdessen müssen Eltern und Erzieher Kindern Erfahrungsräume bieten, in denen sie sich selbst bilden und an sich selbst erfahren können. Für ein funktionierendes Selbstwirksamkeitskonzept ist dies enorm wichtig.
Leider neigen wir dazu, Kindern alles fix und fertig vorzusetzen. Ein Beispiel: Ein Kind findet einen Käfer und zeigt ihn voller Stolz dem Vater. Brüstet sich dieser mit seinem gesamten Käferwissen, so erstickt er damit die Neugierde und die Begeisterung seines Nachwuchses. Hält der Vater jedoch sein Wissen zurück und schickt den ambitionierten Forscher zur Recherche ans Bücheregal, so ist das regelrechtes Kraftfutter für kleine Entdecker.
Eltern haben die Aufgabe, Kinder zu ermutigen, zu inspirieren und sie dafür zu begeistern, Gestalter ihrer kleinen eigenen Lebenswelt zu werden – jeden Tag aufs Neue.
Was im Gehirn dabei passiert
Kindergehirne sind weitaus formbarer als bisher angenommen. Zunächst werden riesige Überschüsse an synaptischen Vernetzungsoptionen zur Verfügung gestellt. Die Hirnforschung hat herausgefunden, dass die Zahl der Nervenzellkontakte bis zum sechsten Lebensjahr so groß ist wie nie wieder im späteren Leben. Von diesem Überangebot bleiben all jene Verbindungen erhalten, die durch individuelle Erfahrungen intensiv genutzt werden. Bis zum sechsten Lebensjahr ist die Anzahl der Nervenzellkontakte so groß wie niemals wieder im späteren Leben. Danach verkümmern all jene Kontakte, die nicht benutzt wurden.
Eigene Erfahrungen haben einen immensen Einfluss auf die Verschaltungen zwischen den Nervenzellen. Kinder sollten deshalb in ihrer ersten Zeit möglichst viele unterschiedliche Wahrnehmungen machen. Dazu gehört das ausgelassene Toben mit dem Vater, das erste selbst gekochte Apfelmus und der Sturz vom Kletterbaum. Jedes einzelne Erlebnis wird dabei im Hirn nicht nur gespeichert, sondern auch miteinander verbunden.
Dabei wird alles, was irgendwie unter die Haut geht, also mit Begeisterung geübt oder erlernt wird, viel besser im Hirn verankert als lustlos auswendig gelerntes Wissen. Lernen und Gefühl sind eng miteinander verknüpft. Kinder so früh wie möglich in Förderkursen Wissen zu vermitteln liegt voll im Trend.
Wie das aus Sicht der Hirnforschung beurteilt wird
Momentan besteht die Tendenz, Kindern in Förderprogrammen immer früher immer mehr Wissen beizubringen. Doch die bloße Anhäufung von Sachwissen reicht nicht mehr, um im Leben neue Herausforderungen anzunehmen und sich Problemen zu stellen.
Kinder brauchen mehr: nämlich in erster Linie die Fähigkeit, sich Wissen nutzbar zu machen um dadurch wieder neues Wissen hervorzubringen.
Aufgrund des riesigen Angebots an Verschaltungen der Nervenzellen können Kinder in ihrer ersten Lebensphase so ziemlich alles lernen. Eltern, die eine Frühförderung für sinnvoll halten, können ihrem Kind das Lesen, eine Fremdsprache oder ähnliches beibringen – falls es Lust hat, dabei mitzuspielen.
Denn nur dann formen sich in seinem Gehirn vielfältige Verschaltungsmuster heraus. Finden Kinder in einem Lernangebot jedoch keinen kreativen Freiraum, so erreichen Eltern mit dieser gut gemeinten Maßnahme nur das Gegenteil.
Nichts bleibt hängen, weil das Gehirn blockiert. Solchen Kindern fällt es immer schwerer, sich auf Neues einzulassen. Der Lerneffekt in selbst gewählten Beschäftigungen ist um ein vielfaches höher. Beobachten Eltern ihre Kinder, werden sie schnell feststellen, dass ihr Nachwuchs hohe Anforderungen an sich stellt und die Messlatte von selbst immer höher legt.
Junge Eltern sind heute oft unsicher, wenn es um Erziehung geht – hier ein Rat
Der Druck auf Eltern ist hoch. Viele haben in ihrem Leben schon die Erfahrung gemacht: wer keine optimalen Startbedingungen hat, bleibt auf der Strecke.
Deshalb versuchen Eltern möglichst früh, ihr Kind zielgerichtet nach ihren Vorstellungen zu fördern. Völlig aus dem Blickfeld gerät dabei, was wirklich zählt, damit Kinder zu kompetenten und starken Persönlichkeiten werden.
Erziehung bedeutet, Kindern Aufgaben anzubieten, an denen sie wachsen und für die sie sich begeistern können. Als verlässlichen Rückhalt brauchen Kinder Eltern, die sie bedingungslos lieben und sie gerade in schwierigen Situationen ermutigen. Da ist es manchmal hilfreich, sich an prägende Erlebnisse aus der eigenen Kindheit zu erinnern, die man nicht missen möchte.
Dazu gehört nicht, mit zwei Jahren schon Englisch gelernt, als Vierjähriger naturwissenschaftliche Experimente im Kindergarten gemacht zu haben und bereits mit fünf Jahren eingeschult worden zu sein.
Vielmehr sind es die stark machenden Erlebnisse, die wir unseren eigenen Kindern größtenteils vorenthalten. Wir packen ihnen den Rucksack fürs Leben, ohne darauf zu achten, ob der Inhalt überhaupt brauchbar ist.
Prof. Dr. Gerald Hüther
(Quelle: kinder-lobby.at)